Dahrendorf / Dähre – Genau 35 Jahre nach der Wende und dem damit einhergehenden Mauerfall wurden in der Gemeinde Dähre jetzt die letzten Grenz-Relikte am ehemaligen Todesstreifen zwischen Ost und West abgebaut. Landwirte zogen aus der Tiefe des Erdreiches diverse Kontrollturm-Kabel bei Dahrendorf. „Die alten Kabel aus DDR-Zeiten sind Reste der Grenzbefestigungen. Sie waren bei der Bodenbearbeitung jetzt im Herbst entdeckt worden und beim Absammeln der Steine, die beim Pflügen zu Tage getreten waren“, erklärt der Dahrendorfer Grenzturm-Besitzer Reiner Axmann der AZ.

Kabel störten bei der Bestellung der Felder
Kurzerhand folgten die Bauern auf dem Acker den Kabeln und entschieden sich letztlich dafür, die störenden Relikte aus Ost-Zeiten mit schwerem Gerät aus dem Boden zu ziehen, was auch gelang. Eine ganze Fuhre, schätzungsweise 200 bis 300 Meter Kabelsalat, kam dabei zusammen. „Hier handelt es sich offenbar um mehrere verschiedene Kabelverbindungen für unterschiedliche Kontroll- und Signalfunktionen entlang der Grenze. Ich erinnere hier nur noch an Signalanlagen für Minenfelder, mutmaßliche Selbstschussanlagen oder Kabel, die im Kontrollturm eine Berührung der Grenzzäune (egal ob durch Mensch oder Tier) anzeigen“, so Axmann weiter. Die „Zentrale“ der Kabel war dabei letztlich der alte Dahrendorfer Grenzturm, wo die diensthabenden Grenzsoldaten das Auslösen der diversen Sicherungsmaßnahmen angezeigt bekamen.

Bildrechte: Archiv Lutz Franke
Auch 35 Jahre nach dem Mauerfall gibt es hinsichtlich der seinerzeit nahezu unüberwindbaren Grenzanlagen der DDR zu Zeiten des „Eisernen Vorhangs“ ungelöste Rätsel. Dazu gehören die vermuteten rund 60 000 Selbstschussanlagen vom Typ SM 70 entlang der einstigen Grenze, welche zu den grausamsten automatischen Tötungsmaschinen gehörten. „Wo sind diese Todesmaschinen heute geblieben“, fragt sich auch der Dahrendorfer Turmbesitzer Reiner Axmann.

Der Museumschef des nahen Grenzlandmuseums Göhr bei Schnega, Dietrich-Wilhelm Ritzmann, gilt als Experte auf dem Gebiet. Als Museumsleiter erforschte er vor allem den Verbleib der Ende 1984 auf Druck des Westens komplett demontierten Selbstschussanlagen SM 70 „Die gab es auch in der Altmark, zum Beispiel verstärkt am Harper Bogen sowie zwischen Schmölau und Dahrendorf“, sagt Ritzmann. „Die Tötungsmaschinen wurden 1970 eingeführt, daher auch die Zahl 70 in der Typenbezeichnung. SM steht für Splittermine“, erklärt Ritzmann weiter. In seinem Grenzlandmuseum zeigt er heute auch Schulklassen aus der Altmark, wie die Grenzanlagen seinerzeit aufgebaut waren. Fakt ist auch, dass die SM 70 niemals direkt in der Nähe von Ortschaften oder an der Grenze zu Westberlin installiert waren.
25 Splitter drangen in den Körper ein
Die Altmark nimmt bei der Tragödie um die tödlichen Selbstschussanlagen einen besonderen Stellenwert ein: Im Grenzbereich zwischen Salzwedel und Arendsee wurden die Selbstschussapparate erstmals vor ihrem Großeinsatz an Wildtieren getestet. Auch der kleine Dährer Ortsteil Wiewohl ging in den 1970er Jahren in die Geschichte ein: Hier demontierte der ehemalige DDR-Bürger Michael Gartenschläger erstmals eine komplette Selbstschussanlage und löste damit ein politisches Erdbeben aus.

Viele Jahre ist es jetzt auch her, als Horst S. bei seiner Grenzflucht am Abend des 29. Dezember 1971 nahe Zießau am Arendsee auf einen bislang unbekannten Gegner stieß. Der 28-Jährige sah, die angsteinflößenden Metalltrichter, die ihn aber auch irgendwie an die Mündung des Gewehrs von Räuber Hotzenplotz erinnerten. Daran befestigt waren drei Drähte, die parallel zum zwei Meter hohen Sperrzaun verliefen. Dass der mittlere Draht der Auslöser für eine neu installierte Selbstschussanlage vom Typ SM 70 war, auf diese Idee kam Horst S. erst, als es bereits zu spät war: 25 der insgesamt bis zu 110 Splitter des mit 100 Gramm TNT-Sprengstoff befeuerten Geschosses trafen S. entlang der rechten Körperhälfte, während kurz nach 19 Uhr beim vor Ort stationierten Grenzregiment 24 die Sirenen losheulten. Der schwer Angeschossene versuchte zwar noch zu flüchten, doch es gelang ihm nicht. Die Grenzer nahmen Horst S. fest. Er kam ins Krankenhaus nach Seehausen und Magdeburg, überlebte und wurde zu einer Haftstrafe verurteilt. Wie die „Welt“ berichtete, wurde S. das erste Opfer der Selbstschussanlage SM 70.
Beim dritten Versuch schnappte die Falle zu

In einer geheimen Verschlusssache wertete der zuständige Generalleutnant Erich Peter alle Fluchtversuche aus. In den Jahren nach 1971 wurden immer mehr Selbstschussanlagen entlang der Grenze installiert. Die Kosten beliefen sich laut Schätzungen auf 100 000 Mark je Kilometer. Bis 1976 wurde etwa ein Drittel der 1378 Kilometer Todesstreifen mit SM 70 bestückt. Die DDR hatte stets bestritten, solche Anlagen zu haben. „Im Bereich Salzwedel-Lüchow wurden die ersten Selbstschussanlagen getestet“, berichtet Ritzmann. An der Produktion der SM 70 sei auch das Munitions- und Jagdwaffenwerk in Schönebeck beteiligt gewesen, weiß Ritzmann.

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Zwischen Salzwedel und Arendsee mussten zunächst die Pioniere ran, das Gelände vorbereiten. Danach wurde die Streuung der Selbstschussanlagen getestet. Traurige Berühmtheit erlangte im März 1976 auch der westaltmärkische Grenzabschnitt zwischen Holzhausen und Wiewohl: „Westlich der Müssinger Höhe baute Michael Gartenschläger seine erste Selbstschussanlage ab“, so der Museumsführer aus Schnega.
Verbleib der Anlagen bis heute ungeklärt
Zwei Mal gelang es Michael Gartenschläger, sich unbeschadet von der BRD-Seite an die Grenzanlagen heranzupirschen und zwei Selbstschussanlagen abzubauen, dann stellte ihm die Stasi eine Falle. Die Enthüllungen Gartenschlägers in der Presse waren für die DDR eine Blamage. Das wollte sich das Grenzregime nicht auf sich sitzen lassen: Nachdem Michael Gartenschläger in geselliger Runde verkündet hatte: „Das dritte Ding hole ich auch noch weg“, schnappte die tödliche Falle zu. Dieses Mal versuchte es Gartenschläger weiter nördlich, in einem Grenzabschnitt bei Hagenow in Mecklenburg-Vorpommern. Als er versuchte, von Westen kommend, am 30. April 1976 die SM 70 zu demontieren, ratterten 120 Schüsse los. Neun Geschosse trafen ihn, er verblutete.
Bei Prozessen in den Jahren 2002 und 2003 gelang es nicht, die zwei tatverdächtigen Stasi-Offiziere als Drahtzieher zu überführen: Die Anwälte plädierten auf Notwehr, weil Gartenschläger eine Pistole dabei hatte und die Richter nicht ausschließen konnten, dass der DDR-Regimegegner als Erster geschossen hatte.

Auf Druck der BRD und internationalem Recht wurden die Selbstschussanlagen bis zum Herbst 1984 abgebaut. Am 30. November 1984 war die letzte Todesmaschine demontiert. Seit ihrer Installation im Jahre 1970 wurden mindestens zehn Menschen durch sie getötet. Wo die Anlagen verblieben sind, ist bis heute ein Rätsel.
KAI ZUBER
Quellenangabe: Altmarkkreis Salzwedel vom 10.10.2024, Seite 5
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