77-jähriger Schmölauer erzählt über das Leben mit und ohne Grenze / Nette Nachbarn in Niedersachsen
Von Anke Pelczarski VOLKSSTIMME
Schmölau l „In dem Haus bin geboren. Hier werde ich auch die Erde verlassen“: Das sagt Karl-Heinz Wesche, geboren im Jahr 1942 in Schmölau. Mit der Grenze quasi vor der Haustür ist er herangewachsen. „Wir konnten alle Türen auflassen, da ist nie etwas passiert“, beschreibt er das Besondere jener Jahre im Sperrgebiet. Es sei aufgepasst worden. So habe er unabsichtlich Alarm ausgelöst, als er sein Moped am Waldesrand stehen gelassen hatte, um Pilze zu sammeln. Vermutet wurde, dass einer auf der Flucht sei. „Künftig musste ich einen Zettel an meinem Moped anbringen, auf dem stand, dass ich in den Pilzen bin“, fügt er mit einem Schmunzeln hinzu.
Ein Nachbar sei geweckt worden, weil die Leiter noch im Apfelbaum stand: Die „Einladung für Republikflüchtlinge“ musste mitten in der Nacht beseitigt werden.
Doch nicht jeder konnte sich mit der Ruhe anfreunden. Sein Bruder sei im Mai 1960 in den Westen gegangen, über die Wiese hinterm Haus nach Schafwedel. Der gelernte Elektriker hatte alles akribisch vorbereitet und mit niemandem darüber gesprochen. „Wir haben uns dann einmal im Jahr bei unserem Cousin in Diesdorf getroffen“, schildert Karl-Heinz Wesche. Selbst zu flüchten, kam dem heute 77-Jährigen nicht in den Sinn. Dennoch hatte ihn der Staat „auf dem Kieker“. „Ich hatte eigentlich, bevor mein Bruder weg ist, die Einberufung zum Wehrdienst zu den Grenztruppen“, erinnert sich der Schmölauer. Da sei kurzfristig „umgelenkt“ worden: Er musste zur Bereitschaftspolizei.
Im Jahr 1986 durfte er zum ersten Mal zur Verwandtschaft nach Uelzen fahren. „Der Busfahrer wollte mir die Grenze erklären. Da habe ich ihm gesagt, dass ich aus Schmölau komme. Den Ort kannte der Fahrer: Er war hier zum Tanzen“, erzählt Karl-Heinz Wesche. Überhaupt sei einst viel los gewesen in Schmölau: Faseloom, Kostüm- und Erntefest. Aber auch der Pfingstkerl, der jedes Jahr unterwegs ist. „Einst gab es noch die Pfingstbraut“, erzählt er und fügt hinzu: „Die Mädchen haben immer mehr Geld bekommen als wir Jungen.“ Viele der Traditionsveranstaltungen sind verboten worden: Schließlich brauchten Besucher einen Passierschein, um nach Schmölau zu gelangen. Die Tradition des Pfingstkerls habe überlebt. Auch wenn heute mehr Erwachsene als Kinder unterwegs seien.
Der gelernte Autoschlosser, der die Schmölauer Ortswehr von 1984 bis 1994 leitete, erinnert sich genau an den 9. November 1989 und die legendäre Rede von Günter Schabowski im Fernsehen. Am nächsten Tag sei er gleich zu seinen Verwandten nach Uelzen gefahren. Der Rückweg dauerte viereinhalb Stunden. Überall habe sich eine blaue Wolke durch die Abgase der Trabis breit gemacht. „Die Grenzer haben Mundschutz getragen, weil es so ein Gestank war“, beschreibt Karl-Heinz Wesche. Kurz darauf sei er mit dem Trabant nach Hessen unterwegs gewesen. „An der Tankstelle hielt neben mir ein Mercedes-Fahrer, der gucken wollte, wie ich tanke“, schildert er eine Episode, berichtet aber auch davon, dass sein Bruder für die „Pappe“ extra seine Garage freigemacht hatte: damit das Auto nicht versehentlich bei der Sperrmüllabfuhr mitgenommen wurde.
Sein Heimatdorf ist seit dem 18. November 1989 wieder mitten in Deutschland. An jenem Sonnabend, genau um 6 Uhr, ist die Grenze nach Schafwedel geöffnet worden. „Das Datum war durchgesickert. Wir haben deshalb am Vorabend bei einem 40. Geburtstag eine Fahne mit der Aufschrift ,Schmölau grüßt Schafwedel‘ versehen“, erzählt Karl-Heinz Wesche. Das Thermometer habe 24 Grad minus gezeigt. „Alles, was Beine hat, hat sich in Richtung Schafwedel aufgemacht“, schildert er und fügt hinzu: „Wir sind herzlich empfangen worden.“ Da es so kalt gewesen sei, habe die Wirtin der Gastwirtschaft die Menschen von nebenan zum Aufwärmen eingeladen. Und sie habe Bier ausgegeben.
Entstanden sei an jenem Tag auch das Foto, das seine Tochter Petra mit Ehemann Sigurd Schulze sowie Enkelin Christina zeigt, aufgenommen vom Fotografen Jürgen Ritter. Ein Zeitdokument, das den Flur von Familie Wesche schmückt.
Der Schmölauer Wehrleiter hat gleich den Kontakt zu den Schafwedeler Feuerwehrleuten gesucht: Im Jahr darauf gab es die erste gemeinsame Übung am Teich nahe der einstigen Grenze. „Wir hatten da noch zwei Gruppen mit acht Leuten. Heute müssen sich Feuerwehrleute aus Schmölau, Holzhausen, Markau und teilweise Bonese zusammentun, damit eine Gruppe voll wird“, vergleicht er.
Die Grenzöffnung möchte Karl-Heinz Wesche nicht missen. Allerdings hat sie nicht nur positive Seiten. „Heute muss man alles abschließen. Und man ist nicht davor gefeit, dass ein Fremder plötzlich auf dem Hof steht, der sich als Handwerker ausgibt“, schildert er eine eigene Erfahrung.
Ein Wunsch habe sich bis heute leider noch nicht erfüllt: dass die Löhne und Renten in Ost und West gleich seien. Der Schmölauer hofft, dass es nicht mehr lange dauere.
Am 18. November wird in diesem Jahr wieder um 6 Uhr ein Gottesdienst an der einstigen Grenze gefeiert. Danach geht es zum Frühstück in den Landgasthof nach Schafwedel. Dietrich Ritzmann vom Swinmark-Grenzlandmuseum Göhr wird einen Vortrag halten, Posaunen werden erklingen. In gemütlicher Runde ist Zeit, um Erinnerungen auszutauschen.